
Blick durch die Fenster des Pavillons am See (Walensee - Schweiz, im September 2009)
Zu dieser Fotografie des Fensters des Pavillons am See gehört auch eine Geschichte. Sie ist am vergangenen Samstag geschehen und handelt von einer Möwe und auch von einer Rose.
Die Geschichte lautet folgendermaßen:
Die Möwe
Ich war schon um acht Uhr früh an meinem Reiseziel angekommen und beschloß die Stunde Wartezeit bis der Zug mit Andreas eintreffen würde am Seeufer zu verbringen, um die Fenster eben dieses Pavillons zu fotografieren. So stieg ich aus dem Auto aus, das ich auf den noch fast vollkommen ausgestorben daliegenden Parklatz abgestellt hatte und schlenderte gemächlich an nichts denkend zum Pavillon, um ein schönes Motiv zu suchen. Zu fotografieren empfinde ich manchmal wie eine Meditation. Wie eine Öffnung in Raum und Zeit. Ich werde ruhig.
Da sah ich eine Rose über den Gartenzaun ranken, der die große Villa am See umsäumte, in deren Garten - genauer gesagt an dessen rechtem Rande - sich auch der kleine Pavillon befand.
Die Rose war betörend schön und fasziniert ging ich zu ihr. Ihre üppig barocke Blütentraube am Ende ihres über den Zaun gebogenen und dornenbewehrten Zweiges strahlte in der Farbe von reifen Orangen mit geröteten Wangen in den erwachenden Morgen.
Plötzlich sprach mich ein junger Mann auf Schweitzerdeutsch an, der auf einem Fahrrad saß. Er trug einen Helm und Sportkleidung. Erst verstand ich ihn nicht richtig. Ich hörte: Möwe und Angelhacken. Und: Handy und Polizei rufen. Endlich begriff ich aber den Zusammenhang! Da vorne war eine Möwe im Wasser, die Hilfe brauchte und ob ich kein Handy hätte, jemanden der helfen konnte, nur wen?, anzurufen.
„Wir können ja erst noch einmal selbst schauen“, sagte ich, und ging schon in die Richtung, in welche der junge Mann gezeigt hatte. Meine Schritte wurden immer schneller und schließlich rannte ich mit ihm über den geharkten Kiesweg am Seeufer zu einer erhöhten Stelle mit Kastanienbäumen und Bänken. Draußen auf dem Wasser sah ich eine Möwe hilflos an einem Nylonfaden treiben und dabei mit den Flügeln schlagen. Sie hatte einen Angelhacken verschluckt!
Zwei stattliche Schwäne näherten sich gerade der Möwe. Nicht in freundlicher Absicht, sondern um sie auch noch anzugreifen. Sie machten lange Hälse zur Möwe hin, die immer wieder panisch vergeblich versuchte davonzufliegen aber nicht konnte und bliesen aus ihren aufgerissen Schnäbeln. Wie ungewöhnlich, dachte ich langsam, warum tun sie das nur? Und: Was für ein Anblick!
Wir balancierten die steile Böschung zum Wasser hinab und ich zog kurzerhand schnell meine Schuhe und die Strümpfe aus, krempelte die Hose so weit wie möglich hoch, um in das Türkis des Sees zu waten. Kastanien lagen zwischen den Steinritzen. Vorsichtig tasteten sich meine Füße über die glitschigen grauen Steine tiefer in das kalte Wasser hinein.
Schließlich bekam ich den Nylonfaden zu fassen und zog die Möwe damit behutsam näher und näher zu mir. Die beiden Schwäne zischten. Doch ich fürchtete mich nicht vor ihnen. Ich beachtete sie gar nicht. Meine Konzentration war voll auf die Möwe gerichtet.
Die Möwe hielt jetzt ganz still. Ich konnte sie mit meinen beiden Händen greifen und hielt sie vorsichtig fest. Was für ein schönes Tier! Es war eine sehr hübsche, zierliche Möwe mit der typischen grauen Markierung am Kopf. Ihr Gefieder fühlte sich an wie glatte, kühle Seide und leuchtete so weiß wie das Eis im Polarmeer mit einem fast bläulichen Schimmer. Ich habe nicht gewußt, wie schön Möwen sind!
Vorsichtig zog ich den großen Angelhacken aus ihrem Schlund. Zum Glück ließ er sich leicht und ohne Verletzung entfernen.
Nun öffnete ich meine Hände.
Da flog die Möwe glücklich erlöst laut schreiend über den See in die Morgensonne davon!
Wieder am Ufer zurückgekehrt sagte der junge Mann erleichtert zu mir: „Jetzt kann ich ohne ein schlechtes Gewissen beruhigt nach Hause radeln“, und wir lächelten uns an.
Den unheilbringenden Hacken mit dem Blinker und dem Fadengewirr in meiner Hand warf ich in den Mülleimer zwischen den Kastanienbäumen bei den Bänken.
Ich erzählte dem jungen Mann auch, daß ich zu einer Frau in dem Dorf auf dem Berg fahren würde.
Diese sagte am Nachmittag beim Abschied vor ihrer Haustüre, nachdem wir uns herzlich umarmt hatten, plötzlich in einem besonderen Ton zu mir - ich hatte mich schon umgewandt um zu gehen -:
"Wirfst du noch einmal einen Blick zurück auf die Rose, bevor du gehst... "
Ich wandte mich um und sah in ihre Richtung.
Sie lächelte.
Jetzt trat sie beiseite und gab den Blick frei.
Hinter ihr rankte der lange, dornenbewehrte Zweig einer betörend schönen Rose vom Garten bogenförmig in den schmalen Weg vor dem Haus hinein, sein Ende schwer von üppigen Blütendolden.
Sie blühten rosarot.
Ich hatte ihr nichts von der Rose und der Möwe am Morgen erzählt.
Ein Gedicht:
SINGE die Gärten, mein Herz, die du nicht kennst;
wie in Glas
eingegossene Gärten, klar, unerreichbar.
Wasser und Rosen von Ispahan oder Schiras,
singe sie selig, preise sie, keinem vergleichbar.
Zeige, mein Herz, daß du sie niemals entbehrst.
Daß sie dich meinen, ihre reifenden Feigen.
Daß du mit ihren, zwischen den blühenden Zweigen
wie zum Gesicht gesteigerten Lüften verkehrst.
Meide den Irrtum, daß es Entbehrungen gebe
für den geschehnen Entschluß, diesen: zu sein!
Seidener Faden, kamst du hinein ins Gewebe.
Welchem der Bilder du auch im Innern geeint bist
(sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein),
fühl, daß der ganze, der rühmliche Teppich gemeint ist.
(Rainer Maria Rilke - Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, Sonett XXI)