Donnerstag, 17. September 2009




Verkaufsfenster mit Rose und Blumentopf (im September 2009)


In einem Fenster zwei Häuser weiter von dem oben gezeigten stand eine lapislazuliblau und gelb emaillierte wunderschöne Vase. Eigentlich war es eher eine bauchig geformte Kanne wie aus einer schönen Geschichte. Aus einem Märchen.
Es war eine Karaffe.
Es war ein ganz unauffälliges und schmuckloses Fenster im Baustil der 70er Jahre, ganz im Gegensatz zu dem Gefäß. Auch das Haus wirkte unauffällig und grau.
Für welchen Zweck mag diese Karaffe wohl gedacht sein?
Für dampfend heißen Tee, der vom Hausherren in die Tassen der Gäste gefüllt werden wird?
Für duftendes Öl?
Für das Blumenwasser?
Oder dient sie als Zierrat?
Um die Blicke der Passanten einzufangen.
Links von der Karaffe hing ein schmiedeeiserner Stern von oben herab, dessen Inneres eine purpurne, klare Glaskugel war.
Ein blanker, erstarrter Tropfen.
Ein Auge.
Und rechts von der Karaffe, welche mein Interesse im Vorbeifahren aus den Augenwinkeln so gefesselt hatte, stand ein Blumentopf mit einer weißen Orchidee.
Lichtschein drang von innen her heraus. Irgendwo im Zimmer brannten kleine Lampen.




Einschub:
Einen Schüler des Rabbi Pinchas quälte der Zweifel, wie es möglich sei, daß Gott alle seine Gedanken, auch die flüchtigsten und unbestimmbarsten, kenne. Vor großer Qual fuhr er zu seinem Lehrer, um ihn zu bitten, er möge die Verwirrung seines Herzens lösen.
Rabbi Pinchas stand im Fenster und blickte dem Kommenden entgegen. Als er eingetreten war und nach der Begrüßung sogleich seine Klage anheben wollte, sprach der Zadik: "Ich weiß es, Freund, und wie sollte Gott es nicht wissen?"

(Aus dem Buch Die Erzählungen der Chassidim von Martin Buber, Manesse Bibliothek der Weltliteratur.)